Rhythmus als Kommunikationsmittel der musikalischen Moderne
In welcher Weise waren rhythmische Phänomene mit beteiligt an der Etablierung neuer Musiksprachen nach 1900? Diese Frage will das DFG-Projekt nicht direkt beantworten, sondern es soll stattdessen analysiert werden, wie sie bisher beantwortet wurde: Die zahllosen Kompendien zur Musik des 20. Jahrhunderts sollen darauf befragt werden, in welcher Form dort dem Rhythmus ästhetische Defizite bzw. Vorzüge unterstellt werden, die dann wiederum die Werturteile über dessen kompositorische Konkretisierungen mit bestimmen.[1] Dieser Ansatz rechtfertigt sich daraus, dass Rhythmus und ästhetische Moderne von vornherein in einem Spannungsverhältnis zu stehen scheinen. Die „Schwierigkeiten mit dem Rhythmus“ verbinden so aber Kompositionsgeschichte und Musikgeschichtsschreibung struktural miteinander. Das Rhythmus-Problem kann daher das Moderne-Problem transparenter machen und umgekehrt.
Das kulturgeschichtliche Panorama nach dem Ersten Weltkrieg kennzeichnet nun selbst ein Spannungsfeld: Rhythmus war für die Lebensphilosophie die zentrale Erlösungskategorie von der Moderne, wie umgekehrt der rhythmische „Beat“ eine Einlösungskategorie der Moderne darstellt, eine zentrale Erfahrung, an der Modernität für die Menschen spürbar wurde. Zugleich dominierte die Kompositionspraxis ein Konflikt zwischen der Idee der rhythmischen Fixierung der Komposition in Tondauern-Ostinati und der Gegenidee einer reihenmäßigen Fixierung des Tonhöhen-Hintergrundes. Diese konkurrierenden Rekonvaleszenzversuche der Moderne von sich selbst (die mit der tonalen Harmonik verloren gegangene „Befähigung zur großen Form“ soll zurück gewonnen werden) aber sind an ungleiche Ausgangsbedingungen gebunden: Die Möglichkeit von musikalischem Rhythmus ohne Tonhöhenfixierung ist ebenso unzweifelhaft gegeben, wie scheinbar jede Tonhöhenfixierung als Musik sich auf eine temporale Verlaufsanordnung zu stützen hat.
Daher kann entweder der Rhythmus selbst kritisiert werden (als primitiv, affirmativ und künstlerisch wenig entwicklungsfähig), oder es kann umgekehrt das logozentrische musikästhetische Fundament dieser Kritik vom Rhythmus her kritisiert werden.[2] Rhythmische Innovationen können so einerseits stärker als solche im Bereich der Tonhöhenfixierung als „Traditionsbruch schlechthin“ im Sinne Danusers rezipiert werden.[3] Andererseits ist ein rhythmischer „Traditionsbruch nach vorne“ durch die mögliche Abhängigkeit der Rhythmus-Wahrnehmung von normativen Bindungen erschwert. In der Musik des „Traditionsbruchs nach hinten“ wiederum spiegelt sich die ästhetische Sonderstellung des Rhythmus: Er stellt dasjenige Element dar, das zugleich am stärksten und am wenigsten mit der Tradition zu brechen scheint.
Am Rhythmus zerschellt insbesondere das für die ästhetische Moderne zentrale Modell der Parameter-Umkehr (bisher rezessive, nicht strukturrelevante Gestaltungsfaktoren werden nun strukturdominant): Rhythmus kann, wahrgenommen als Klang, durchaus als vormals rezessiver Parameter klassifiziert werden, der erst in perkussiv-motorischen Geräuschannäherungen ganz zur Entfaltung kommen konnte. Rhythmus kann aber auch als dominantes Strukturmoment angesehen werden, dem ein vormals rezessives Element – das Komponieren mit subthematischen Prädeterminationen – nicht in gleicher Weise zugeführt werden kann (darauf beruht das bekannte Theorem von der rhythmischen Rückständigkeit der Zwölftonmusik). Der Rhythmus ist im System der Moderne also sozusagen gerade das unrhythmisierte, aus dem Takt kommende Element, da für jenes System die Vorstellung einer Überwindung der Taktmetrik ebenso zentral ist, wie die rhythmische Darstellung in einer Art der „Wiederkehr des Verdrängten“ immer wieder doch noch auf metrische Elemente zurückzugreifen scheint.
Eine Theorie des Rhythmus als Interferenz der Antipoden (wie Mythos und Logos, Körper und Geist oder auch Uhrzeit und Erlebniszeit) hätte daher die Anschlussfähigkeit der Historischen Musikwissenschaft an die „kritische“ Rhythmustheorie der Kulturwissenschaften herzustellen, um auf diese Weise neue Wege der musikanalytischen Beschreibung der rhythmischen Praxis nach 1900 zu ermöglichen.[4]